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Menschen im Wachkoma brauchen Lebenshilfe

Menschen im Wachkoma werden in der momentanen öffentlichen Diskussion - wie gerade auch in vielen Talkshows im Fernsehen - als Personen gesehen, die mit unseren heutigen pflegerischen und medizinischen Mitteln am Sterben gehindert werden. Mit einer klaren, vorher verfassten Patientenverfügung ließe sich ein solches "Dahinvegetieren" verhindern. Wir halten aus jahrelanger Erfahrung diese Einschätzung für falsch. Sie ist medizinisch nicht begründet!

"Der oder die bekommt eh nichts mehr mit!" Immer wieder begegnen uns solch hilflose Auffassung als offene Äußerung oder als verstecktes aber erkennbares Verhalten im Umgang mit Menschen mit schweren Hirnverletzungen oder im Wachkoma. Oft ensteht diese Einschätzung aus Unkenntnis oder Mangel an Sensibilität für die leisen Signale der so Betroffenen in ihren verschiedenen Remissionsphasen.

Eine Bewohnerin im Wachkoma bekam Besuch bei uns von einer Familie aus ihrer früheren Nachbarschaft. Was sollte man mit ihr anfangen, wenn sie "nicht" antwortet und redet? Man war relativ hilflos. Auch, weil man solches Leben als sinnlos ansah. Sie wandten sich an eine Pflegekraft, die gerade in der Nähe war, wedelten mit den Händen sehr nah vor den Augen der Bewohnerin und fragten: "Gel, die kriegt das nicht mit?" Unsere Bewohnerin ist daraufhin unartikuliert laut geworden und beruhigte sich erst, als die Besucher den Raum verließen.

"Koma ist kein passiver Zustand, sondern eine aktive, bis auf tiefste Bewußtseinsebenen zurückgenommene Lebenstätigkeit. Koma hat Schutzfunktion und ermöglicht es den Betroffenen, ganz bei sich selbst zu sein. Koma in diesem Sinne ist eine extreme, höchst empfindsame, verletzliche und damit auch schutzbedürftige Lebensform am Rande zum Tode. Koma ist damit aber zugleich nicht einfach nur Ausdruck einer Krankheit, also „pathologisch“, sondern zugleich möglicher Ausgangspunkt einer neuen Lebensentwicklung, also eine sinnvolle Lebensform. Im Koma drücken sich destruktive und produktive Momente und Dimensionen eines Menschen mit einer stets einzigartigen Lebensgeschichte aus. Dies ist unbedingt zu berücksichtigen." So zu lesen bei Patienten im Wachkoma e.V., die sich zur Aufgabe gemacht haben, Menschen im Wachkoma zu einem Leben in der gewohnten Umgebung zu verhelfen.

Weiter heißt es dort zu Menschen im Wachkoma: "Nicht einmal 40 Prozent der Menschen, die in ein Wachkoma fallen, bekommen die Chance einer Besserung, weil keine Rehabilitationsmaßnahmen für sie eingeleitet werden. Wir setzen uns daher dafür ein, dass diese Menschen nicht zu schnell aufgegeben werden. Sie müssen ihre Chance, wieder aufwachen zu können, erhalten, bevor man eine Entscheidung über ihren Lebensweg trifft." Und: "Menschen im Wachkoma brauchen keine Sterbehilfe; sie sind weder Sterbenskranke noch "Hirntote"; sie brauchen Lebenshilfe!"

Im Stern 39/2006 berichten Katja Gloger und Dave Anderson von Terry Wallis, der 1984 bei einem Verkehrsunfall so schwere Hirnverletzungen davontrug, dass er die Folgezeit im Koma zubrachte. Er ist nach 19 Jahren aus dem Koma erwacht, weil, wie er sagte, Pepsi wollte. immer noch schwerstpflegebedürftig, bleibt er auf die Hilfe seiner Familie und anderer angewiesen. Der Bericht im Stern endet sehr erstaunlich, indem Terry selbst sein Leben bewertet. "Einmal sagt er: "Es ist eine gute Zeit, zu leben!" Erleichtert lachen seine Eltern. Und Terry Wallis lacht auch. "Mein Leben ist wunderbar" sagt er."

Auch wir haben Erfahrungen mit Menschen im Wachkoma in ihren verschiedenen Remissionsphasen gemacht, die uns aufhorchen ließen und uns heute daran hindern, entgültige Entscheidungen für den Wert eines Lebens zu treffen, das wir selbst nicht durchmessen können. Darum brauchen Menschen im Wachkoma Lebenshilfe! Und es ist für uns keine Frage, dass wir unsere Möglichkeiten ausschöpfen, damit sie weiter ins Leben zurückkehren können.


Marcello Ciarrettino, Pflegeexperte für Menschen im Wachkoma und Lehrer im Gesundheitswesen, Fachgesundheits- und Krankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie, Gesundheits- und Pflegewissenschaftlichen Institut St. Elisabeth, Essen, hat sich nach dem Tod von Terri Schiavo und der dadurch ausgelösten Diskussion in seiner Puplikation: Zustand Wachkoma vs. Prozess Wachkoma - oder: "Der Mensch kann nicht nicht kommunizieren" (Paul Watzlawik) eingehend und kompetent mit dem für uns alle wichtigen Thema auseinandergesetzt. Wir empfehlen Ihnen, diesen Aufsatz zu lesen! Er ermöglicht, aus Unkenntnis und Hilflosigkeit gegenüber Menschen im Wachkoma auszubrechen.


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